Das schöne Ende eines langen Tages

Magda, die junge Hexe, wurde von den hellen Sonnenstrahlen geweckt, die sie an der spitzen, aber langen Nasenspitze kitzelten. Sie blinzelte erst mit dem linken, dann mit dem rechten Auge. So richtig wollte sie eigentlich nicht wach werden. Hatte sie doch heute ihren ersten Urlaubstag! Sie hatte sich so auf diesen Tag gefreut, endlich liegen bleiben so lange sie wollte, kein Wecker-Schrillen und dann so etwas… Die warmen Sonnenstrahlen, die durch ihr Fenster fielen, weckten sie doch tatsächlich vor ihrer normalen Aufstehzeit! Könnt ihr euch das vorstellen? Die Strahlen schienen so durch das Fenster, dass Magda in dem Licht leichte Staubpartikel sehen konnte. In dem Moment, in dem sie das Tanzen des Staubs in der Luft sah, musste sie auch schon niesen. Nun war es endgültig vorbei mit dem Schlafen. Sie streckte und reckte sich noch einmal kräftig und dann ging´s mit Schwung aus dem Bett.


Sonst arbeitete sie immer in der Hexen-Ferien-Pension am Tanzplatz. Doch ab heute hatte sie für eine Woche frei. Wie schön! Sie hatte sich soviel vorgenommen: Magda wollte ihr kleines Zimmer putzen und das tolle Buch über die Hexen-Abenteuer der Hexenlegende Hulda lesen. Das Buch lag inzwischen schon seit Wochen auf ihrem Tisch, doch bisher hatte sie noch keine Zeit gefunden, es zu lesen. Es kam ihr immer etwas dazwischen und wenn sie dann endlich nach Hause kam, nach einem anstrengenden Arbeitstag, dann war sie einfach zu müde zum Lesen. Außerdem sollte in dieser Woche das Wetter besonders schön werden und sie wollte zum See. Vor ihrem geistigen Auge stellte sie sich schon vor, wie sie die Tage am See mit dem Buch verbrachte, die Ruhe genoss und vielleicht ab und an ein kühlendes Bad im Wasser nahm: einfach herrlich! Während sie so ihre Pläne schmiedete, flog der kleine Rabe Tobi durch den Kamin. Er hatte einen Brief im Schnabel, der mit krickliger Handschrift an Magda adressiert war. „Komisch“ dachte sie, wer sollte ihr denn einen Brief schicken? Sie sprach leise die Zauberformel und der Brief öffnete sich. Viel stand nicht auf dem Zettel, doch die Nachricht klang dringend: „Liebe Magda, ich weiß, dass du frei hast, kannst du kommen und mir helfen? Gruß, Oma Tilde“. Hm, komisch, was war mit Oma Tilde los? Warum schrieb sie ihr, statt anzurufen und warum brauchte sie Magdas Hilfe? Die kleine Hexe überlegte nicht lange. Es war für sie selbstverständlich, dass sie sich sofort auf den Weg machte. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit zum Frühstücken, ein kleiner Schluck kalter Kaffee vom Vortag musste reichen. Sie machte sich wirklich Sorgen und wollte so schnell wie möglich ihre Oma sehen. So schnappte sie sich ihren Reisigbesen, der in der Ecke im Flur stand, stieß die Tür auf, schwang sich auf den Besen und erhob sich leise und doch ganz flott in die Luft. Ihr Flug war ruhig, sie spürte den leichten Wind auf ihren Wangen und so langsam erwachten nun alle Lebensgeister in ihr.

Nach einem kurzen Flug kam sie bei ihrer Oma auf dem Hof an. Alles war ruhig, nichts rührte sich, weder im Garten noch auf dem Hof. Sie stieg von ihrem Besen ab und ging ins Haus. „Oma“, rief sie, „wo bist du? Ist dir etwas passiert? Was ist los?“ „Hier bin ich, Magda, in der Küche. Schön, dass du so schnell gekommen bist! Stell dir vor, Tante Luise kommt mit ihren Kindern zu Besuch. Du weißt schon, diese Blagen, die das kleine Hexen-Einmaleins nicht können, aber sich für superschlau halten. Sie können sich nicht benehmen und verhexen alles, was ihnen zwischen die Finger kommt.“ „Hm, und warum hast du mich gerufen?“, fragte Magda verwundert ihre Oma, die gerade in der Küche nach ihrem Küchen-Hexenbuch suchte. „Ich dachte mir, wo du doch jetzt Urlaub hast und dich bestimmt langweilst, könntest du mir bei den Vorbereitungen helfen und, wenn die wilde Bagage angekommen ist, dich um die Rasselbande kümmern. Dann hätte ich wenigstens Zeit und Ruhe, mit meiner Tochter Luise gemütlich zusammen im Garten zu sitzen und die Sonne bei Kaffee und Kuchen zu genießen. Du bist doch bestimmt so lieb, oder Magda? Du, kannst deiner alten Oma doch diese kleine Bitte nicht abschlagen!“
Magda antwortete nicht. Sie war während der vorgebrachten Bitte ihrer Oma immer kleiner geworden. Warum konnte sie nicht einfach verschwinden? Heute war ihr erster Urlaubstag und nun sollte sie sich um die Besuchsvorbereitungen und später sogar noch um diese nervigen Cousins und Cousinen kümmern? Magda zögerte allerdings nur einen kurzen Moment. Es fiel ihr immer schwer, eine Bitte abzuschlagen, vor allem eine ihrer Oma. Sie riss sich zusammen, während sie noch darüber nachdachte, wie schön der heutige Tag hätte werden können. Sie lächelte etwas gezwungen und antwortete: „Na, klar Oma, du kannst dich auf mich verlassen. Ich bleibe und helfe dir, solange du mich brauchst. Ich kann dich ja jetzt nicht im Stich lassen.“ Dass ihr Lächeln etwas gezwungene Züge um ihre Mundwinkel hinterließ, bemerkte die Oma Tilde gar nicht.

So kam es, wie es der kleinen Magda so oft ging. Endlich hätte sie Zeit für sich gehabt, hätte endlich mal all die Dinge machen können, die in den letzten Wochen liegen geblieben waren, hätte sich erholen und entspannen können, doch nun fühlte sie sich verpflichtet, der Oma zur Hand zu gehen. Sie sah ja ein, dass ihre Oma nicht mehr alles alleine machen konnte, schließlich war sie schon 546 Jahre alt! Ein ganz schönes Alter, auch für eine Hexe! Während sie nun im Haus alles blitzblank putzte, den Rasen mähte und den Tisch für den Kaffeeplausch deckte, dachte sie einen kleinen Moment darüber nach, warum ihre Schwester Minna eigentlich nicht half. Als sie den Kuchen aus der Küche holen wollte, fragte sie ihre Oma mit unsicherer, heller Stimme: „Hast du Minna nicht erreicht oder warum ist Minna nicht auch zum Helfen da?“ „Du weißt doch, wie Minna ist“, erwiderte ihre Oma. „Minna hat immer keine Zeit, sie ist immer so beschäftigt. Ich glaube, sie hat mir erzählt, dass sie heute einen Termin beim Kosmetiker hat, oder war das der Frisörtermin? Ich weiß nicht, sie wollte sich unbedingt die Furunkel-Warze auf der Nase entfernen und die Haare mit Henna färben lassen. Beide Termine sind ganz wichtig für sie, da wollte ich sie nicht belästigen!“
Noch bevor Magda etwas erwidern konnte, hörten die beiden lautes Lachen und Johlen über dem Haus. Dann gab es einen fürchterlich lauten Knall und plötzlich stand der Besuch rußverschmiert in der Küche. Tante Luise beschwerte sich gleich bei Oma und hielt ihr einen großen Ziegelstein unter die Nase. „Mensch, Mutter, kannst du endlich mal diesen Kaminzug reparieren? Guck dir an, wie viele Steine diesmal herausgebrochen sind! Das geht so nicht weiter.“ Ihre vier kleinen Kinder, die Cousinen und Cousins von Magda, hüpften aufgeregt und schnatternd in der Küche herum. „Wir haben Hunger und Durst!“, riefen sie fast gleichzeitig. Magda hörte ihre Oma sagen: „Dann kommt mit in den Garten, der Tisch ist schon gedeckt und den Kuchen kann Magda gleich mitbringen. Magda, bist du so lieb? Du kannst ja noch schnell den Dreck zusammenfegen und dann nachkommen. Du bist doch so lieb?“ Wieder verbiss sich Magda eine Antwort, doch so langsam war sie echt genervt. Warum wurde immer nur sie eingespannt?

Liebe Leser, was soll ich euch sagen, der ganze Nachmittag verlief so. Es hieß immer nur, „Magda, Liebes, holst du bitte mal dies oder das, kannst du die verschüttete Milch aufwischen"  … und dann war, das, was sie tat, noch nicht einmal gut genug. „Du kannst doch nicht den Putzlappen benutzten, der ist doch nur für das Geschirr.“
Ihr könnt es euch vielleicht vorstellen, nachdem die kleine Hexe auch noch die vier Kinder bespielen musste, war sie am Ende des Tages völlig erschöpft und den Tränen nahe. Sie war so müde und kaputt, dass ihr doch tatsächlich der Zauberspruch für den Rückflug auf ihrem Besen entfallen war. Sie verabschiedete sich von der Oma und dem Besuch und als sie mit leiser und niedergeschlagener Stimme nach dem Zauberspruch für den Rückflug fragen wollte, da kam ihre Tante ihr schon zuvor: „Was ist nur mit dir los, Magda, du bist so jung und schon so schusselig?“

Da machte sich Magda enttäuscht zu Fuß auf den Rückweg. Sie schulterte ihren Besen und zog langsam Richtung Wald davon. Während sie langsam den Weg entlang trottete, bemerkte sie ihren Raben Tobi, der ihr immer ein kleines Stück voraus flog. Sie sah ihn im hell scheinenden Mondlicht, immer eine Nasenlänge vor ihr. Plötzlich setzte er sich auf ihre Schulter und fragte mit seiner krächzenden Rabenstimme: „Magda, warum bist du so traurig und so still?“ Die kleine Hexe musste gar nicht lange überlegen, die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus: „Weißt du Tobi, es war heute mein erster Urlaubstag nach vielen Arbeitswochen, ich hatte mich wirklich sehr gefreut. Doch statt mich zu erholen, habe ich Oma geholfen. Ich habe das ja auch gerne getan, aber keiner hat sich bedankt. Nicht einmal Oma Tilde.“ Magda schluchzte, ihr Körper bebte vor Verzweiflung. „Ich habe versucht, es allen recht zu machen, und keiner hat gesehen, dass ich eigentlich müde und kaputt war. Und nun habe ich auch noch versprochen, in den nächsten Tagen mit den Kindern Ausflüge zu machen.“ Langsam wurde Magdas Stimme immer verzweifelter, sie schrie fast: „Ich kann nicht mehr! Ich habe den Urlaub wirklich bitter nötig!“
Tobi war völlig überrascht. Er blickte Magda an und fragte sie: „Was würde passieren, wenn du die nächsten Tage nicht deine Zeit mit den vier Hexenkinder verbringst?“ Der schwarze Rabe, der auf Magdas Schulter saß, bemerkte ihre Bekümmernis und sah, wie der jungen Hexe die dicken Tränen über das Gesicht liefen. Sie erreichten die Weggabelung, an der rechts der Weg zum Dorf führte, in dem Magda arbeitete und wohnte. Tobi sah, wie mühsam die Bewältigung des Weges für sie war. Magda strauchelte nur so vor sich hin, fiel beinahe zu Boden. „Wie wäre es, Magda, wenn du dich an der Weggabelung etwas ausruhen würdest? Du kennst doch den großen so einladend mit weichem Moos bewachsenen Stein. Dort könnten wir Rast machen.“ Magda fand den Vorschlag gut.
An der Gabelung angekommen, nahm sie auf dem Stein Platz. Es war ein geradezu mystischer Augenblick an diesem Ort. Es war inzwischen schon ganz dunkel geworden, doch der Mond, es war Vollmond, schien ganz hell durch die Wipfel der Bäume und erleuchtete gerade in diesem Moment diesen wunderschönen Stein. Sie seufzte tief und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Als sie in diesem wundervollen Augenblick der Stille und Ruhe so dasaß, da hörte sie plötzlich eine tiefe, sehr angenehme leise Stimme sprechen. Sie guckte Tobi an, auch er schien die Stimme zu hören. „Ich bin es, der Stein, der zu dir spricht, liebe Magda. Dein tiefes Seufzen habe ich wohl vernommen und ich weiß auch, was dich schon so lange bedrückt. Magst du mir vielleicht zuhören?“ Magda traute sich nicht zu sprechen, sie nickte nur mit dem Kopf, denn sie wollte diesen magischen Moment nicht zerstören und hoffte darauf, dass der Stein weitersprach. Der Stein erhob wieder seine Stimme und sprach langsam und bedächtig folgende Worte: „Vor gar nicht so langer Zeit rastete auch ein Herr hier an dieser Stelle und er sprach folgende Worte:

<Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn nicht, schone dich.>

Ich, der Stein, fragte den Herrn noch, ob es seine eigenen Worte waren oder er sie von jemandem nachsprach. Sie klangen so weise! Der Herr antworte damals: „Diese schönen Zeilen schrieb einst Bernhard von Clairvaux, er nannte sein Gedicht: Schale der Liebe!“ Nun, liebe Magda, lass diese Zeilen auf dich wirken und höre in dich hinein, ob sie dir etwas sagen wollen.!“

Der Stein verstummte und die junge Hexe blieb mit Tobi, ihrem Raben, noch eine ganze Weile andächtig auf ihrem so besonderen Platz sitzen. Nach einer Weile räusperte sich Tobi und sprach Magda ganz leise an. „Magda, darf ich dich etwas fragen?“ „Ja“, antwortete Magda ebenso leise zurück. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Sinn der Worte richtig verstanden habe“, sprach Tobi. „Wollte der Stein dir damit vielleicht sagen: Nur wenn deine „Lebensschale“ mit Wasser, also Lebensenergie und -freude gefüllt ist, wenn sie zum Überlaufen voll ist, dann ist es ratsam, von deiner überschüssigen Energie und Kraft anderen abzugeben? Hast du es auch so verstanden?“ „Ja, ich glaube, so kann man es verstehen“, antwortete die junge Hexe ganz andächtig. „Vor allem bedeutet es für mich, dass ich mich erst einmal um mich selber kümmern darf. Für andere kann ich nur insoweit hilfreich sein, wie ich mich selber liebevoll behandle. Ich darf, nein, ich soll sogar erst für mich sorgen und dann erst sind die anderen dran! Wenn mir etwas zu viel wird, dann darf ich auf mich achten und „nein“ sagen!“

Magda erhob sich von dem Stein, bedankte sich in Gedanken für diese wertvollen Worte, schlug ausgeruht und mit festen Schritten den Weg nach Hause ein. Es war schon sehr spät, als sie endlich in ihrem Bett lag. Durch das Fenster konnte sie das Mondlicht sehen und dachte noch über den Tag und die für sie so heilsamen Worte des Steins an der Weggabelung nach. Während sie innerlich das Gedicht wiederholte, schlossen sich langsam ihre Augen. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen und sie war so froh über dieses ganz besondere Erlebnis. Nun fiel sie in einen ganz besonders tiefen und erholsamen Schlaf.


(Ute Wohlstein, März 2021)

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