Annas Fahrt zu ihrer Mutter

Liebe interessierte Leserinnen und Leser,

mich erreichte in den letzten Tagen folgender Bericht zum Thema „Altwerden“ von meiner Freundin Anna. Ihr Besuch bei ihrer alten und kranken Mutter bewegte sie sehr. Mit ihrem Einverständnis darf ich ihre Gedanken an dieser Stelle hier mit Ihnen teilen.

 

Mein Besuch bei meiner Mutter

 

Ich, Anna, sitze gerade mit einer gewissen Anspannung im Zug und fahre gen Nord-Osten, einmal quer durch die Republik. Gemischte Gefühle begleiten mich. Der Himmel ist grau, die Aussicht aus dem Fenster deshalb trüb. Die Atmosphäre im Zug ist gedämpft. Manchmal kann ich sogar Corona positive Aspekte abgewinnen. Der Großraumwagen hat sich seit meinem Einstieg zwar langsam gefüllt, doch dadurch, dass in jeder Sitzreihe nur eine Person am Fenster sitzt, ist der Wagen des ICE nur zur Hälfte besetzt, vielleicht nicht einmal das. Bis auf die Fahrgäste, die gerade Hunger verspüren und etwas essen, tragen alle vorbildlich ihre Maske und somit sind alle Gespräche am Handy oder untereinander recht leise. Diese Atmosphäre empfinde ich als ziemlich angenehm. Meine gefühlte Anspannung hat also nichts mit der Stimmungslage hier im Zug zu tun, sondern sie liegt in meinem Ziel begründet.

Schon die letzte Nacht habe ich nicht so gut geschlafen, lag ab 04:00 Uhr in der Früh wach, viele Gedanken schwirrten durch meinen Kopf… irgendwann muss ich dann noch einmal eingeschlafen sein. Als mein Radiowecker mich mit lauter Musik aus dem Traum riss, war ich einerseits erleichtert, da ich im Traum gerade Gefahr lief mit viel Gepäck und kleinen Kindern in Begleitung meinen reservierten Zug zu verpassen. Völlig erschöpft hatte ich mit meiner Tochter den Zug noch bestiegen, fing gerade an unsere reservierten Plätze zu suchen … da vermisste ich meinen kleinen Sohn… oh, Schreck! … Radiomusik riss mich aus dieser katastrophalen Situation … Sie können sich denken, das war in diesem Traum-Moment ein Segen und Entspannung machte sich in meinem noch müden Körper breit.   … Mit jeder Sekunde, mit der ich mehr und mehr aus meinem schläfrigen Traumzustand erwachte und die Gewissheit erlangte meiner lebhaften Phantasie entronnen zu sein, gesellte sich nun zu dem Gefühl der Erleichterung das Gefühl der Müdigkeit hinzu. Schließlich fehlten mir nicht nur ein paar kostbare Stunden Schlaf, sondern ich wurde um einiges früher als üblich unsanft in den Tag katapultiert.
Nun sitze ich also hier im Wagen Nummer 4, am Fenster, inzwischen ist der Himmel völlig mit grauen Wolken verhangen und Regentropfen perlen außen an der Fensterscheibe ab. Bei diesem Anblick fröstelt es mich, es passt irgendwie zu meinem Innenleben. Ich fahre zu meiner alten, kranken Mutter. Sie lebt zwar noch an ihrem alten Wohnort, doch zur Erleichterung meiner Schwester und mir wohnt sie seit knapp einem Jahr in einem Seniorenheim. Mein Verhältnis zu ihr ist mehr als problematisch.
Sie befindet sich in einer Phase ihres Lebens, die aus meiner (beobachtenden) Sicht, wohl der herausforderndste Lebensabschnitt eines Menschen ist. In ziemlich kurzer Zeit hat ihr Körper ihr mehr und mehr den Dienst verweigert. Vielleicht ist dieser körperliche Verfall gar nicht so schleichend gewesen, wie ich es heute als Außenstehende rückblickend wahrgenommen habe? Es kann auch sein, dass meine Mutter aus anerzogenem und angelerntem Pflichtbewusstsein wie immer „nur“ die Zähne zusammengebissen hat. Ihre größte Angst war und ist nach wie vor die vor Kontrollverlust!   Sie hielt zwanghaft an ihrem „selbständigen“ Leben in der dreigeschossigen Doppelhaushälfte fest und versuchte nach Außen das Bild aufrecht zu erhalten, dass sie den alltäglichen Herausforderungen immer noch gewachsen sei. Sie gestand sich selber und ihrer Umwelt nicht ein, dass Alter und Krankheit ihren Tribut forderten, vielleicht nahm sie es auch tatsächlich selber nicht wahr. Ganz nach dem Motto: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“!
Meine jüngere Schwester und ich haben schon vor langer Zeit immer wieder versucht, sie zu Veränderungen in ihrem Lebensumfeld zu bewegen. Wir wohnen beide räumlich weit von unserer Mutter entfernt. Ein Wohnortswechsel in die Nähe meiner Schwester kam für sie ebenso wenig in Betracht wie die Anpassung ihres häuslichen Umfelds vor Ort. Weder eigene Einsicht noch unser gutes Zureden konnten sie bewegen, rechtzeitig, also tatsächlich noch „zur rechten Zeit“, verantwortlich und selbstkontrolliert für sich zu handeln! Vielleicht haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch ähnliche Erfahrungen gemacht? Viele alte Menschen scheinen sich schwer damit zu tun, die wachsende Unselbständigkeit mit Alter und Krankheit zu akzeptieren und daraus erforderliche Veränderungen einzuleiten und zu akzeptieren. Wie wird es mir einmal gelingen?

Den Wunsch nach einem möglichst langen, selbstbestimmten und -kontrollierten Leben kann ich sehr gut nachvollziehen! Oft hat meine Mutter mir in vorwurfsvollem Ton entgegengeschleudert: „Komm du mal dahin! Wenn du alt und krank bist, dann wird es dir auch nicht besser gehen!“ Natürlich kann man mir vorwerfen: „Du weißt gar nicht, wie das ist, du hast gut reden!“ Ich bin tatsächlich noch nicht selbst betroffen und obwohl die ersten Alters-Zipperlein sich auch bei mir langsam einschleichen, bin ich ziemlich gesund. Doch ich habe den Alterungsprozess bei meinen Großeltern beobachtet und auch den Krankheits- und Sterbeprozess bei meinem Vater begleitet. Diese Erfahrungen sind nicht spurlos an mir vorüber gegangen.   Das Thema „Alter“ beschäftigt mich zunehmend, seit meine Mutter alleine in ihrem Haus wohnt und unter Einsamkeit leidet. Aufgrund meiner Beobachtungen und Erfahrungen mit meiner Mutter stelle ich mir immer öfter die Fragen: „Welche Konsequenzen ziehe ich für mich daraus? Wie möchte ich alt werden und meinen letzten Lebensabschnitt gestalten? Was kann und will ich meinen Kindern in diesem Zusammenhang zumuten? Anna, wie kannst du im Alter für dich verantwortungsvoll und möglichst lange handlungsfähig leben?“

Es ist allerdings nicht nur die Einsamkeit, die meiner Mutter zu schaffen machte. Viele Freundschaften haben meine Eltern während ihrer Ehe nie gepflegt. Mit ihrer Devise: „Wer etwas von uns will, der muss zu uns kommen!“ haben sie es geschafft, dass nicht viele intensive Kontakte geblieben sind. Doch neben dem Alleinsein wuchs meiner Mutter die Arbeit in Garten und Haus stetig über den Kopf, ohne dass sie es sich selbst, geschweige uns Töchtern gegenüber, eingestehen konnte. Dann ließ sich das Schicksal nicht mehr aufhalten. Meine Mutter stürzte diverse Male im Haus und auch auf der Straße. Ein Wasserrohrbruch im Keller tat dann noch sein Übriges und meine Mutter landete im Krankenhaus. Ihr Gesundheitszustand war nun so schlecht, dass sie direkt vom Krankenhaus zur Kurzzeitpflege in ein Seniorenheim kam. Große Wahlmöglichkeiten gab es nicht. Wir waren froh, so kurzfristig überhaupt einen Platz gefunden zu haben. Meine Schwester und ich bemühten uns nach Kräften darum, dass sie wunschgemäß von dort in ein Seniorenheim an ihrem Heimatort wechseln konnte. Sie hatte tatsächlich Glück und konnte einige Wochen später dorthin umziehen. „Umziehen“ ist an dieser Stelle nicht der richtige Ausdruck. Viele Habseligkeiten hatte sie in die Kurzzeitpflege nicht mitnehmen können. Da sie völlig unplanmäßig und unfreiwillig ihr Haus verlassen hatte, fiel ein bewusster Abschied vom Haus aus. So wichtig wie es ihr immer war, die Kontrolle zu behalten, so sehr hatte sie diese nun verloren. Sie hatte keinen Einfluss auf die Wahl des Seniorenheims, konnte sich keine unterschiedlichen Häuser angucken und keine bewusste Auswahl treffen. Es blieb ihr keine Gelegenheit, selbst zu überlegen, was sie in ihr neues Zuhause mitnehmen wollte. Konnte nicht mehr ein paar Erinnerungsstücke, Fotos oder dergleichen persönlich aussuchen. Das, was ihr immer so ein Grauen war, trat nun mit voller Wucht ein. Ihr war die Handlungshoheit abhandengekommen!
Wir Töchter haben versucht, so gut wie es uns möglich war, für sie diese Entscheidungen zu treffen. Dann kam leider auch noch Corona dazu und wir hatten über Wochen keine Gelegenheit sie in ihrem neuen Zimmer zu besuchen.

Als rettender Anker in diesen beängstigenden Zeiten erschien die Impfung. Lange hatten die Heimbewohner auf die für sie erlösende Corona-Impfung gewartet. Endlich war es so weit. Meine Mutter entschied sich sofort für die Impfung. Sie hatte sich inzwischen gesundheitlich etwas stabilisiert und ein kleines Maß an Selbstkontrolle zurückerobert. Ab und an ging sie im Ort kleine Besorgungen machen und traf auch den einen oder anderen früheren Nachbarn. Diese durften meine Mutter aufgrund der Corona-Regeln zwar nicht im Heim besuchen, aber ein zufälliges Pläuschen im Supermarkt war so ab und an möglich. Es ging ihr einigermaßen. Abgefunden hatte sie sich mit ihrem Schicksal aber nicht und das ist leider auch heute noch so!
Uns Töchtern gegenüber weint sie viel am Telefon, hadert mit ihren Krankheiten, fühlt sich vom Leben betrogen, schimpft und beklagt ihre Situation im Heim. Ich habe meine Mutter immer als eine Kämpferin wahrgenommen, die auch hart gegen sich selbst kämpft, die sich immer auch als Opfer sieht und der wir Töchter nichts recht machen können.
Nun bekam meine Mutter die zweite Impfung. Diese vertrug sie leider überhaupt nicht! Woran es letztendlich gelegen hat, wissen wir nicht. Sie ist natürlich eine hochbetagte und sehr kranke Frau, vielleicht wurde in einen bisher unerkannten Infekt geimpft … Fakt ist, dass sie vor ein paar Tagen von einem Notarzt nachts erneut in ein Krankenhaus eingewiesen wurde. Es ging ihr sehr, sehr schlecht und wir fürchteten das Schlimmste! Am nächsten Morgen bekam ich die Nachricht, dass meine Mutter von der Intensiv-Station auf die normale Station verlegt worden war und sich ihr Zustand langsam stabilisierte. Zu sprechen war sie leider nicht, ein Telefonat war nicht möglich. Sie hatte noch kein Telefon an ihrem Bett und die Krankenpflegerin konnte ihr das Stations-Telefon nicht aushändigen, da sie isoliert war. Inzwischen war meine Schwester schon auf dem Weg in den Norden-Osten. Da ich noch ein paar wichtige Termine hatte und die prekäre Situation gebannt schien,   fuhr ich ein paar Tage später hinterher.

Inzwischen konnte meine Schwester zwar dafür sorgen, dass meine Mutter ein Telefon am Bett stehen hatte und sie konnte auch mit ihr sprechen, doch war ein verständliches Gespräch mit meiner Mutter krankheitsbedingt kaum möglich. Vom Arzt bekam sie nach zwei Tagen die telefonische Auskunft, dass es tatsächlich sehr knapp gewesen war … sich meine Mutter nun jedoch langsam erholte.
Nach einer Woche hatte sich ihr Zustand so gefestigt, dass sie tatsächlich wieder ins Seniorenheim zurückkehren konnte. Es war für uns alle drei eine schwierige Woche gewesen. Meine Schwester und ich, wir durften aufgrund der Corona-Regeln unsere Mutter nicht im Krankenhaus besuchen. Die telefonischen Gespräche mit ihr waren sehr mühsam. Sie wollte uns so viel mitteilen, war mit der pflegerischen Versorgung nicht zufrieden, hatte vielleicht auch einfach Angst… Doch auf der anderen Seite des Telefons saßen wir und konnten sie so gut wie gar nicht verstehen. Aufgrund ihrer Erkrankung fällt ihr das Sprechen schon lange schwer, sie ringt oft nach Worten, denkt schneller als sie sprechen kann und verhaspelt sich. Durch diese erneute gesundheitliche Krise, ihren akut problematischen Gesundheitszustand und das Liegen auf dem Rücken war sie für uns so gut wie gar nicht zu verstehen. Das war einfach furchtbar! Sie konnte sich nicht wirklich verständlich machen und wir wussten nicht, was sie uns sagen wollte. Als sie nun wieder ins Heim zurückkam, konnten wir sie wenigstens besuchen. Die Besuche waren zwar eingeschränkt, die Hygiene-Regeln waren zu beachten und wir mussten uns testen lassen, doch wir konnten sie das erste Mal in ihrem Zimmer in der Senioreneinrichtung besuchen. Schon auf dem Flur des Seniorenheims wurden wir von einer Pflegerin sehr freundlich begrüßt. Unser Besuch war angemeldet und bei unserem Anblick ahnte sie sofort, dass wir Frau P. besuchen wollten. „Sie wollen bestimmt zu Frau P. ? Ich bringe Sie zu ihr!“, begrüßte sie uns freundlich lächelnd. Mit dem Aufzug ging es dann gemeinsam in den 2. Stock. Während der Fahrt erzählte sie uns begeistert, wie nett unsere Mutter doch wäre und wie gut sie sich im Haus eingelebt hätte. Sie, die Pfleger, hatten sich alle große Sorgen um sie gemacht und waren nun froh, dass sie wieder aus dem Krankenhaus zurückkehren konnte. Meine Schwester und ich blickten uns etwas verstohlen an, sprach die freundliche Pflegerin tatsächlich von unserer Mutter? Uns gegenüber äußert sie sich am Telefon immer sehr unzufrieden. Ihr gefallen weder das Zimmer, das Essen noch die pflegerische Versorgung. Ständig ist sie am Meckern und auch am Weinen und betont ihre Unzufriedenheit. Dadurch macht sie uns das Herz schwer und die Anrufe sehr unangenehm und belastend. Veränderungsangebote von uns, z. B.: ein Umzug in eine Einrichtung in der Nähe meiner Schwester, Bestellung eines bequemeren Fernsehsessels oder das Mitbringen von Bildern, Fotos oder anderen kleinen Erinnerungsstücken aus ihrem Haus, lehnt sie alles ab. Wenn wir zur Unterstützung klärende Gespräche von unserer Seite aus mit dem Pflegepersonal, Ärzten oder der Leitung vorschlagen, dann lehnt sie diese Hilfe brüsk ab. Sie hat Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, möchte nicht, dass wir für sie tätig werden. Diese Befürchtung kann ich einerseits gut nachvollziehen. Letztes Jahr ist mir bei ihrem Krankenhausaufenthalt oft aufgefallen, dass Ärzte und Pfleger in ihrem Beisein das Wort immer an uns Töchter richteten. Dieses Verhalten hat bei mir immer ein unbehagliches Gefühl hinterlassen, in gewissem Maße fühlte ich mich zwischen zwei Stühlen. Die Ärzte und Pfleger haben grundsätzlich nicht viel Zeit und fürchten vielleicht ein Patientengespräch mit einer alten, kranken Frau koste zu viel Zeit, sei zu mühselig und die Patientin verstehe die Erklärungen sowieso nicht. Tatsächlich ist es für meine Mutter oft schwierig, dem Inhalt der Gespräche zwischen Tür und Angel zu folgen, und doch geht es ja um sie und ihre Belange. Ich stelle mir vor, dass sich bei ihr ein Gefühl von Hilflosigkeit entwickelt, ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Das ist die eine Sichtweise. Auf der anderen Seite fühle ich mich als Tochter auch zur Hilflosigkeit verdammt. Meine und die Hilfe meiner Schwester lehnt sie ab. Wir fühlen uns auch machtlos, haben das Gefühl, dass sie uns nicht vertraut, unsere Hilfe nicht annehmen kann. So stecken wir wohl alle drei in einem Dilemma…   Wirklich schwierig wird es aus meiner Sicht, wenn unsere Mutter sich bei uns immer über alles beklagt. Sie hat sich aus meiner Sicht schon immer als Opfer der Verhältnisse gesehen und tat sich auch immer sehr schwer damit ihren eigenen Anteil, ihre eigene Verantwortung wahrzunehmen. Anderen, fremden Menschen gegenüber, reißt sie sich zusammen und signalisiert Zufriedenheit. So kommt es, dass zum Beispiel die Pflegerin uns zur Begrüßung mitteilt, dass unsere Mutter eine so freundliche und zufriedene Frau sei, die sich prima eingelebt hat. In Gesprächen mit uns und anderen ihr nahestehenden Personen ist Jammern, Weinen und Schimpfen angesagt.
Aus diesen Klagen meiner Mutter höre ich einerseits einen Hilfeschrei und den Apell „unterstütze mich“. Andererseits fühle ich mich weggestoßen von ihr, wenn sie Vorschläge und Unterstützungsangebote ablehnt. Meine Erfahrung aus der Kindheit, es ihr sowieso nie recht machen zu können, verstärkt meine Wahrnehmung ungenügend zu sein.

Schon längst hat die Alters-Wirklichkeit sie eingeholt. Doch durch die letzte gesundheitliche Krise ist meiner Mutter wieder ein großes Stück mehr an Kontrolle abhandengekommen. Es fällt mir sehr schwer zu beobachten, wie mühsam die Nahrungsaufnahme für sie ist und es auszuhalten nicht gleich unterstützend einzugreifen. Ob sie sich soweit erholen und ihre kleinen Einkaufsgänge wieder aufnehmen wird, bleibt ungewiss.
Was aus meiner Sicht bleibt, ist die Erkenntnis von Joachim Fuchsberger: „Alt werden ist nichts für Feiglinge!“ Und doch kommt das Alter nicht überraschend. Es ist klar, dass wir Menschen, wenn es uns überhaupt vergönnt ist, alt zu werden, in der Regel nicht gesund und munter, körperlich und geistig völlig fit zu weisen alten Frauen und Männern werden. Meistens können wir in unseren Familien schon früh beobachten, dass Altwerden mit Einschränkungen verbunden ist. Jeder von uns hat mehr oder weniger intensiv Großeltern und Eltern erlebt, die gebrechlich und alt werden, sogar sterben. Wir haben mit ihnen und vielleicht auch schon längst an uns selbst erfahren, wann ihre bzw. unsere Grenzen erreicht sind. Aus meiner Sicht ist es wichtig, diese eigenen Grenzen wahrzunehmen und anzunehmen. Vor kurzem habe ich ein Interview mit Wolfgang Schäuble in „Die Zeit“ gelesen (25.03.2021, Seite 9: „Lernt die Menschheit aus Krisen?“), da sagt er so treffend: „Ich glaube aber auch, es ist wichtig, dass wir uns mit unseren Grenzen abfinden. Es hilft nichts: Die Geschichte beginnt mit der Zeugung, und dann ist es ein Werden, aber eben auch ein Vergehen, und zwar jeden Tag. Und es gehört zum Menschsein dazu, zumindest zu versuchen, das zu verstehen.“   Doch wie gelingt es einem Menschen, das zu verstehen? Wie gelingt es mir, Anna, Tochter von Frau P.?
Ich versuche mir darüber klar zu werden, dass mein Leben, meine Gesundheit nicht grenzenlos ist. Natürlich denke ich nicht jede Minute am Tag darüber nach, doch die Erfahrungen und Beobachtungen mit meiner Mutter lassen mich nachdenklich zurück. „Wie möchte ich im Alter mein Leben gestalten? Wenn ich es nicht mehr kann, wer soll für mich entscheiden? Wie gelingt es mir loszulassen, wenn die Zeit gekommen ist?“ Einen Anfang habe ich schon gemacht. Einen Brief an meine Kinder und meinen Ehemann mit meinen derzeitigen Vorstellungen bezüglich Betreuen, Pflegen und Sterben habe ich schon geschrieben. Ob ich an alles gedacht habe, wird sich erweisen. Wahrscheinlich ist auch diese Auseinandersetzung ein Prozess, der aus meiner Sicht nicht nur für mich persönlich elementar ist, sondern der auch die Möglichkeit bietet, andere, zum Beispiel meinen Ehemann und meine Kinder zu entlasten.

 

Inzwischen bin ich wieder in meinem Zuhause angekommen. Frühlingshafte Sonnenstrahlen erwärmen nicht nur die Luft, sondern auch meine Seele. Es herrscht draußen in der Natur Aufbruchstimmung, alles wird grün und die Vögel musizieren laut und kräftig. Und auch das gehört zum Leben dazu: Alles hat einen Anfang und ein Ende und ich kann mir überlegen, ob und wie ich mein Ende annehmen und gestalten möchte.

                                                                                                                (Anna, April 2021)

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